Berliner Geschichtsstunde
von Gernot Facius
Die halbwegs positive Nachricht vorweg: Zum ersten Mal erinnerte Deutschland mit einem bundesweiten Gedenktag offiziell an die Millionen von Landsleuten, die vor 70 Jahren zwangsweise ihre Heimat verloren. Die weniger gute Nachricht: Dieses Gedenken wurde medial überlagert vom Appell des Bundespräsidenten, mehr Empathie für die Entwurzelten von heute zu zeigen.
Denken wir heute nicht zu klein von uns", mahnte Joachim Gauck mit Blick auf die Integrationskraft nach dem Krieg wie auf die aktuelle Flüchtlingslage. So festigte sich sehr schnell der Verdacht, das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen solle instrumentalisiert werden, um eine unkontrollierte Masseneinwanderung politisch hoffähig zu machen. Dafür spricht allerdings einiges. Denn der Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung wurde von der Großen Koalition aus CDU / CSU und SPD an den internationalen Weltflüchtlingstag gekoppelt, den die UN-Generalversammlung vor 15 Jahren beschlossen hatte.
Mehr war nicht drin, sosehr sich die damalige BdV-Vorsitzende Erika Steinbach (CDU) auch abmühte. Ihr Nachfolger, der Siebenbürger Sachse Bernd Fabritius (CSU), fand die thematische Verbindung, wie er dem Berliner „Tagesspiegel" erklärte, dennoch sehr gut: „Das Anliegen der Vertriebenen geht nicht unter. Im Gegenteil: Wenn ihr Leid verbunden wird mit dem aller anderen Opfer von Flucht und Vertreibung, wird klar, daß auch ihre Vertreibung Unrecht war." Ob er sich da nicht getäuscht hat? Springers „Welt" fiel nur ein, an das Drängen der deutschen Wirtschaft zu erinnern, mit Erleichterungen im Asylrecht dem Fachkräftemangel abzuhelfen.
Allein der Ort dieser Gedenk-Premiere sagt einiges aus über die Bedeutung, die man der Leidensgeschichte von etwa fünfzehn Millionen Deutschen einräumt: Nicht der Plenarsaal des Bundestages, was angemessen gewesen wäre, sondern der Innenhof des Deutschen Historischen Museums war dafür bereitgestellt worden. Das paßte zu den seit langem beobachteten Versuchen, dieses monströse Menschheitsverbrechen zu musealisieren, es den Historikern zu überlassen, politisch einen Schlußstrich zu ziehen, um die Rechtsnachfolger der ehemaligen Vertreiberstaaten nicht zu verärgern.
Wer sich nur auf die kurzen Fernsehberichte verließ, mußte den Eindruck gewinnen, Joachim Gauck habe „Äpfel mit Birnen" verglichen, als er auf Parallelen zwischen den Vorgängen vor siebzig Jahren und den Flüchtlingsströmen von heute verwies. Dabei hat der „Franziskus der deutschen Politik", wie ihn die Frankfurter Allgemeine" titulierte, in seiner Rede eine durchaus differenzierte Reise in die Geschichte des sogenannten „Bevölkerungstransfers" unternommen und dabei manches Krumme zurechtgerückt.
Er machte klar, daß nicht erst die Potsdamer Beschlüsse, auf die sich die Regierenden in Prag und Warschau so gern berufen, „Fakten" geschaffen hatten: „Millionen Deutsche waren bereits aus dem deutschen Osten, aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Ungarn, Jugoslawien, Rumänien geflüchtet und vertrieben. Und was in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen sollte, hatte sich in der Realität als Albtraum erwiesen." Gauck hat auch an die in der Heimat Zurückgebliebenen erinnert, die entrechtet, enteignet, mißhandelt, auf Todesmärsche geschickt, ermordet, interniert, zur Zwangsarbeit herangezogen, erst scheinbar „wild", dann vermeintlich „geordnet" vertrieben, als „lebende Reparationen" verschleppt in Arbeitslager in der Sowjetunion wurden.
Und er hat den britischen Verleger Victor Gollancz zitiert, der schon 1947 zu dem Schluß kam: „Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, wird diese Vertreibung als die unsterbliche Schande all derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlaßt oder die sich damit abgefunden haben. Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß an Brutalität."
Das deutsche Staatsoberhaupt, in der DDR sozialisiert, gestand nicht „ohne eine gewisse Scham", warum er, warum „Einheimische" so bereitwillig verdrängten, daß die Vertriebenen „so unendlich mehr bezahlt hatten für den gewaltsamen, grausamen Krieg als wir. Warum wir, die wir die Heimat behalten hatten, aufzurechnen begannen und eigene Bombardierungen und Tote anführten, um uns gegen die Trauer der Anderen zu immunisieren. Mit politischen Thesen blockierten wir die uns mögliche Empathie".
Von diesem Bekenntnis nahm der überwiegende Teil der deutschen Presse nicht Notiz. Ebensowenig wie von Gaucks nüchterner Beschreibung der Tatsache, daß damals Deutsche zu Deutschen kamen und „häufig diskriminiert und beschimpft wurden als Polacken, Zigeuner, Rucksackdeutsche oder Habenichtse", die sich angeblich dem Nazi-Reich „besonders angedient" hatten: „So fand die mangelnde Solidarität noch eine zynische Begründung." Der Bundespräsident hat recht. Von einer Willkommenskultur konnte keine Rede sein, und die Eingliederung lief auch nur schleppend an.
Was heute als gelungene Integration gelobt wird, mußte hart erarbeitet und erkämpft werden. Obwohl Menschen gleicher Sprache, Kultur und Religion in das vom Krieg versehrte Land strömten. Anders als eine westdeutsche Legende es fabuliert hat, hatte man es nicht mit einem rührenden Gemeinschaftswerk nationaler Verbundenheit zu tun. Die neue Umgebung war „kalte Heimat", so hat es der Historiker Andreas Kossert formuliert.
Aktuell ist diese Heimat mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die sich von denen der ersten Nachkriegsjahre unterscheiden. Man darf die Unterschiede nicht kleinreden oder gar ignorieren. Professor Manfred Kittel, der diesjährige Träger des Menschenrechtspreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft, hat dazu Bedenkenswertes ausgeführt. Integration sei nicht unmöglich, aber man sollte sich bewußt werden, „daß dies noch einmal eine ganz andere Nummer wäre als damals".
Wo es heute um Integration gehe, gelte, daß diese umso leichter gelinge, je kulturell näher die Einwanderer der Aufnahmegesellschaft stünden - und umgekehrt. Schaut man sich die Migrationsströme genauer an, werden die Unterschiede zu gestern deutlich. Zwar kann man die Opfer der Politik „ethnischer oder ethnoreligiöser Säuberungen" mit den Vertriebenen von damals vergleichen. Das gilt aber nicht für die Wirtschaftsflüchtlinge.
Völlig zurecht warnt Professor Kittel vor einer Verkennung des individuellen Schicksals der Vertriebenen. Es gilt deshalb zu unterscheiden zwischen denen, die als junge Angehörige der Mittelschichten, die eigentlich in ihrer Heimat dringend benötigt werden, ihr Glück in Europa versuchen, und jenen, die sich und ihre Familien vor unmenschlicher Gewalt in Sicherheit bringen wollen. Artikel 1 der einschlägigen Genfer Konvention sieht in dem Flüchtling eine Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nation, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann.
Das grenzt den Kreis der Aufzunehmenden ein. Wer zum Beispiel aus dem Kosovo nach Deutschland kommt, ist kein Vertriebener. Dort, stellt Bernd Fabritius klar, gebe es kaum ethnisch bedingten Vertreibungsdruck, Migrationsentscheidungen seien „wirtschaftlich bedingt". In der aktuellen Debatte darf nicht untergehen: Schlesier, Ostpreußen und Sudetendeutsche, um nur einige Opfergruppen zu nennen, kamen nicht als Asylanten oder Migranten, auch nicht als Armutsflüchtlinge. Sie kamen als Landsleute, man hatte sie aus ihrer Heimat brutal verjagt. Diese begriffliche Unterscheidung tut not. Denn nichts ist gefährlicher als ein falsch gesetzter Vergleich. Leider hat der Berliner Gedenktag wenig zu einer sachlichen Differenzierung beitragen können.
Dieser Kommentar von Gernot Facius erschien in der Sudetenpost Folge 6 vom 5.Juni 2015.
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