Das Trauerspiel um das Vertreibungs-Gedenken
von Gernot Facius
Ohne Kompromisse kommt der Politikbetrieb nicht aus. Das zu leugnen, wäre lebensfremd. Es gibt gute und weniger gute, um nicht zu sagen faule Kompromisse. Nur darf man Letztere nicht als Erfolg verkaufen. Enttäuschend ist auf jeden Fall die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, von 2015 an am 20. Juni, dem im Jahr 2000 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen proklamierten Weltflüchtlingstag, den im Koalitionsvertrag von CDU / CSU und SPD versprochenen nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung zu begehen.
Damit folgt das Kabinett Merkel-Gabriel nicht den Ländern Bayern, Hessen und Sachsen, in denen jeweils am zweiten September-Sonntag der Vertreibung von mehr als 14 Millionen Deutschen gedacht wird. Der Unterschied zwischen beiden Entscheidungen erschließt sich schnell, man muß sich nur die Vorgeschichte vor Augen halten. Es war die Intention des Bundes der Vertriebenen und der Landsmannschaften, einen nationalen Tag des Erinnerns zu schaffen, der nicht im "Allgemeinen verschwimmt" (die scheidende BdV-Präsidentin Erika Steinbach).
Die deutschen Opfer sollten im Mittelpunkt stehen. Bayern, Hessen und Sachsen sind dieser Linie im wesentlichen treugeblieben. Sie haben, das muß man ihnen zugestehen, ein Zeichen der Solidarität mit den Ost- und Sudetendeutschen sowie den Landsleuten aus Südosteuropa gesetzt. Der Bund jedoch verstrickte sich in Endlosdebatten - schon während der schwarz-gelben Regierung war eine Einigung nicht in Sicht.
Der 5. August - an jenem Tag im Jahr 1950 wurde die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verkündet - schied bald als nationaler Gedenktag aus, obwohl Unionspolitiker wie Horst Seehofer noch heute deren Vision eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können, rühmen. SPD, Grüne, Linke und Organisationen wie der Zentralrat der Juden in Deutschland, polemisierten dagegen.
Angeblich relativiere die Charta die „deutsche Schuld". Die Berliner Koalitionäre beugten sich diesem Druck. Heraus kam schließlich mit der Festlegung auf den 20. Juni eine, nennen wir sie ruhig: leicht zu durchschauende Alibi-Entscheidung. Um möglichen negativen Reaktionen aus Polen, der Tschechischen Republik und anderen Staaten, aus denen Deutsche vertrieben wurden, aus dem Weg zu gehen, „erweiterte" man eben den Weltflüchtlingstag, der in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie keine Rolle spielt.
Problematisch genug, allein schon wegen der Begrifflichkeit. Flucht, aus welchen Gründen auch immer, ist in der Regel eine individuelle Entscheidung, Vertreibung hingegen die Folge systematischer staatlicher Gewalt: Menschen werden erst entrechtet, aufgrund rassistischer Dekrete und Gesetze a la Beneš oder Bierut, und dann gezwungen, ihre angestammte Heimat zu verlassen, unter teils bestialischen Begleitumständen. So wie nach 1945 geschehen.
Die Erinnerung an diese „ethnische Säuberung" mit dem Weltflüchtlingstag der UNO zu verbinden, ist bei Licht besehen, eine Verbeugung vor der politischen Korrektheit. Indem man die Vertreibung der Deutschen, wie von SPD-Seite gewünscht, in einen vagen „europäischen und internationalen Kontext" stellt, begünstigt man eine politische Relativierung dieses monströsen Verbrechens und lenkt von der Mitverantwortung der ehemaligen Weltkrieg-ll-Alliierten ab, die noch heute die Vereinten Nationen dominieren.
Daß Erika Steinbach und andere Granden der Unionsparteien dennoch von einem guten Tag für die deutschen Heimatvertriebenen sprachen, ist eher der Parteiräson geschuldet als ernst gemeint. Damit soll überdeckt werden, daß die Union und Kanzlerin Merkel in dieser Frage vor dem kleineren Partner SPD (freiwillig) kapituliert haben.
Kopfschüttelnd nimmt der Chronist zur Kenntnis, daß der BdV der Kanzlerin sogar die eigens für sie geschaffene Ehrenplakette in Gold verlieh. So ganz wohl ist selbst prominenten CDU-Parteigängern nicht. Zwar würdigte auch Helmut Sauer, Bundesvorsitzender der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU / CSU, die Gedenktag-Entscheidung als ein „positiv gemeintes Signal". Aber er nahm sich die Freiheit, zu sagen, daß der Beschluß sich an dem Beispiel von Bayern, Hessen und Sachsen messen lassen muß: „Einen nationalen Gedenktag nach diesem Länder-Vorbild einzurichten, bei dem die eigene deutsche Geschichte und das Sonderopfer von Millionen deutscher Landsleute im Vordergrund steht, und ausgehend davon auf das bestehende Leid in der Welt, auf Flucht, Vertreibung und Völkerrechtsverbrechen hinzuweisen, wäre der richtige Weg gewesen."
Resümee: Das im Koalitionsvertrag generell beschriebene Gedenktags-Vorhaben ist zwar eingelöst worden. "Dennoch bleibt die Angliederung deutschen Vertriebenengedenkens an den Weltflüchtlingstag lediglich ein Kompromiss, der wohl das Maximum dessen darstellt, was mit dem Koalitionspartner SPD und insbesondere mit dem Bundesaußenministerium möglich gewesen ist." (Sauer).
Nun kommt es darauf an, was man aus dem Anhängsel an den Weltflüchtlingstag macht. Wird man die - geringen - Möglichkeiten der Erinnerung nutzen oder flieht man vollends vor der eigenen Trauerarbeit als Deutsche? Das ist nun die Frage. Die Erlebnisgeneration der Vertriebenen ist im Rentenalter, sie stirbt langsam aus.
Im Alter kehren bei vielen von ihnen lange verdrängte Kindheitserinnerungen zurück: an Feuermeere und Trecks, an Leichengeruch in Güterwaggons und an Verlassenheit. Die Buchhandlungen und Bibliotheken sind voll von Erlebnisschilderungen. Selbst ehemalige „Spiegel"-Journalisten, nicht gerade die sensibelsten der Branche, packen ihre Kindheitserinnerungen zwischen Buchdeckel. Auch das, wenn man so will, ein Beleg für einen Bedarf an nationalem Gedenken.
Aber noch immer wollten viele nicht zur Kenntnis nehmen, schrieb 2008 der Historiker Andreas Kossert („Kalte Heimat"), der den Mythos von der rundum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945 erschütterte, daß die Orgie von Rache und Gewalt, die Flucht und Vertreibung darstellten, zwei Millionen Zivilisten das Leben kostete und weitere vierzehn Millionen ihrer Wurzeln beraubte.
In der „DDR" wurden sie verschwiegen und waren verurteilt, vierzig Jahre zu schweigen. Im Westen Deutschlands waren die „Habenichtse" zunächst ausgegrenzt, später wurden sie als „Revanchisten" beschimpft, verprellt durch die Ostverträge zogen sie sich schließlich selbst zurück. „Sie hatten die Vertreibung überlebt, sie hatten die Ausgrenzung ertragen, und nun ließ man sie wieder allein. Nie wollte man ihre Geschichte hören" (Kossert). Dabei waren es die Vertriebenen, die über Jahre Brücken in den Osten gebaut haben.
Aber was immer sie taten, so beendete Kossert, der am Aufbau des Berliner Dokumentationszentrums der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung" beteiligt ist, „sie blieben Eindringlinge in der Welt, die nur noch nach Westen schaute. In dieser Welt war kein Platz für sie." Am peinlichen Gezerre um einen nationalen Gedenktag wird offenbar, wie realistisch dieser Eindruck ist. Die linksliberale Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit" verwies jüngst auf einen Kriegsenkel-Kongreß in Göttingen 2013. Dort kam die Formel auf: „Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen - das ist Aufgabe der Enkel." Die Politik könnte ihnen dabei helfen.
Ein nationaler Gedenktag, der das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen ehrlich aufgreift und nicht im „Allgemeinen verschwimmt", wäre ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit diesem Schicksal. Doch alle derartigen Initiativen sind bislang gescheitert. Der 20.-Juni-Kompromiß ist nicht mehr als politische Kosmetik.
Dieser Kommentar von Gernot Facius erschien in der Sudetenpost Folge 10 vom 2.Oktober 2014.
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